Knigge für die Kink-Community

Im täglichen Miteinander, das derzeit leider zu kurz kommt, sind Socializing, gutes Benehmen und gewandtes Auf­treten grundlegend. In unserer Community wäre ein Knigge, also Benimmregeln hinsichtlich Stil- und Etikettefragen benannt nach dem gleichnamigen Freiherren, ab und zu recht hilfreich.

In den USA entstand ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Old Guard Bewegung, die innerhalb der Lederszene klare Strukturen und Rollenverständnisse definiert. In deren Verhaltenscodex wird eine strikte Rollen­festlegung zwischen dominanten und unterwürfigen Partnern und formaler Umgang sowie betont männliches Verhalten untereinander geregelt. Werte wie Disziplin, Respekt, Brüderlichkeit und Ehre sind bei Old Guard maßgeblich. Hierbei unterscheidet man zwischen zwei unterschied­lichen Protokollen: Zum einen das Low Protocol, das in der Öffentlichkeit Anwendung findet. Es wird nur unterschwellig die D/s (Dominant/submissiv) Beziehung ausgelebt, um zwar im Alltag ein ge­wisses Level von Disziplin zu wahren, ohne jedoch auffällig zu werden. Dieses niedrige Proto­koll enthält Elemente des Dienens und der Verantwortung, die jederzeit angemessen und praktizier­bar sind. Der unterwürfige Partner demonstriert hierbei sein Gehorsam unterschwellig durch seine Worte und Gesten. Das High Protocol tritt bei offiziellen Leder­veranstaltungen in Kraft und wird bei der Sprache, der Körperhaltung und den Gesten erkennbar. Die Aufgabe des unterwürfi­gen Partners nach High Protocol ist es, dem Dominanten jederzeit zu Diensten zu sein.

Dieses mehrstufige System ist dazu gedacht, um Führung und Struktur zwischen mindestens zwei Part­nern zu regeln, damit jeder Beteiligte weiß, was von ihm erwartet wird. Old Guard Le­bensstil, der von vielen Mythen umrankt wird, sowie der dazugehörige Verhaltenskodex wurden in den 1980ern und 1990ern, u.a. aufgrund deren Abgeschlossenheit, als zu starr und altmodisch eingestuft. Als Gegenbewegung entwickelte sich die New Guard bzw. New Leather, die deutlich offenere Strukturen toleriert und ein breiteres Spektrum an Verhaltensweisen und Rollen­ver­tei­lungen akzeptiert. Trotz der Kritik sowie der heute vorherrschenden New Leather Bewegung sind die Werte der Old Guard nach wie vor ausschlaggebend.

Verhaltensregeln in S/M- und D/s-Beziehungen zu definieren obliegt den jeweiligen Beteiligten, beispielsweise die Anrede untereinander oder Körperhaltung und Blickrichtung. Sie werden in zwei Bereiche gegliedert: Die privaten Regeln beziehen sich auf die Umgebung hinter ver­schlossenen Türen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Im Gegensatz dazu gibt es zwischen dominanten und devoten Partnern Abmachungen für das Verhalten im öffentlichen Raum. Diese orientieren sich primär an militärischen Umgangsregeln zwischen einzelnen Dienst­rängen. Stichworte wie Obrigkeit, Disziplin, Aufrichtigkeit und Härte definieren das Auftreten des Tops während Fleiß, Pflichtbewusstsein, Gehorsam und Unterordnung in Assoziation mit dem sub stehen. Beispiele für D/s-Verhalten im öffentlichen Raum sind die Bereitschaft und Fähigkeit des sub, die Zigarre für den Top fachgerecht anzuschneiden und zu entzünden. Bei Events mit gleich­ge­­sinntem Publikum gehört es sich für den sub, sich um die Stiefel seines Tops zu küm­mern, wenn verlangt, mit voller Hingabe diese zu lecken. Den Dominanten hingegen zeichnen Schutz seines subs, Verantwortungsbewusstsein und Einfühlungsvermögen aus. Manieren sind immer gefragt, ob nun dominant oder devot.

Der Grundsatz von BDSM, bewusst zu handeln, gilt genauso für den allgemeinen Umgang mit unseren Mitmenschen. In der Kommunikation ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wer sein Gegenüber ist und welche Wortwahl in der jeweiligen Situation angemessen ist. Soll man sich in unsicheren Situationen dem Verhalten der Mehrheit anpassen oder doch so agieren, wie man es gelernt bzw. vorgelebt bekommen hat? Grundsätzliche Umgangsformen sind u.a. höflich, ehrlich, vorurteilslos, charmant sowie selbstbewusst aufzutreten und weder aufdringlich noch rücksichts­los zu sein. Blickkontakt und Interesse für sein Gegenüber sind Türöffner für ein gutes Mitein­an­der. Eine laute Person, egal ob beim Sprechen oder beim Lachen, wird entweder als arrogant oder unsicher eingestuft. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung habe ich gelernt zu beobachten und zu schweigen, es sei denn jemand handelt respektlos und verstößt gegen die guten Sitten. Das Verhalten eines anderen Menschen öffentlich zu bewerten und abwertende Bemerkungen kundzutun ist für mich tabu. Diese Regeln mögen altmodisch klingen, haben aber in jeder Situation des Alltags ihre Berechtigung, egal ob beim Kennenlernen, beim Abendessen mit Freunden oder beim Cruisen in der Bar. Echt und authentisch zu sein, seine eigenen Grenzen, seinen Platz sowie seine Rolle zu kennen führt unweigerlich zu einer Selbstsicherheit, mit der Freundlichkeit gegenüber anderen zur Selbstverständlichkeit wird.