And the winner is…

Mister Leather Wahlen gibt es in den USA seit den 1970er Jahren, Europa zog kurze Zeit später nach. Ich kann sowohl aus der Sicht eines Mister-Kandidaten als auch aus der eines Jurymitglieds mit Fug und Recht behaupten, dass weder die eine noch die andere Rolle eine einfache ist. Gefragt zu werden, Jurymitglied bei Titelwettbewerben zu sein, freut und ehrt mich, denn auf meine persönliche Meinung wird Wert gelegt. 

Vor allem bin ich stolz darauf, dass ich dieses Jahr bei der Wahl zum International Mr. Leather (kurz: IML) in die Jury berufen worden bin. Gleichzeitig ist es in meinen Augen eine große Ver­antwortung, unter den Kandidaten den Richtigen zu finden, der eine aktive Rolle übernehmen und mit motivierter Arbeit und Hingabe für seine lokale Community da sein wird. Meine erste Erfahrung als Juror war bei der Wahl zum Mr. Leather Tschechien 2015 in Prag, wobei mir die Wertung der Interviews schwerfiel. Die Kandidaten verfügten über wenige Englischkenntnisse, beantworteten in ihrer Landessprache ausführlich die Fragen, welche uns leider nur in knappen Worten übersetzt wurden. Ich musste mich vorrangig auf die Mimik und das Glänzen in den Augen verlassen statt auf das gesprochene Wort. Grundsätzlich höre ich auf meinen Verstand, um den für die Community geeignetsten Kandidaten auszusuchen. Erfahrungsgemäß bekommt man es den­noch automatisch mit Intuition zu tun, das Bauchgefühl spielt eine im wahrsten Sinne ent­schei­dende Rolle.

Je mehr Kandidaten sich einer Wahl stellen, desto schneller zeichnen sich Favoriten ab. Ent­scheidend ist neben dem persönlichen Interview für mich die Beobachtung der Bewerber in ihrem Umfeld während der Wahlveranstaltung. Dabei verhalten sie sich nämlich entspannt und authen­tisch. Bei der Wahl zu den Three Kings, den drei Titelträgern in Irland 2016, gab es statt einer Befra­gung der einzelnen Anwärter ein Gruppengespräch mit verschiedenen Diskussionen. Eine aus meiner Sicht gelungene Gelegenheit, die Kandidaten und deren unterschiedliche Ansichten und Motivationen kennenzulernen und auf das Agieren untereinander zu achten. Bei der Wahl zur Miss Tuntenball 2017 in Graz waren wir vier Juroren gefragt, direkt nach der Vorstellung der Kandidatinnen Punkte zu vergeben und öffentlich auf der Bühne ein Feedback abzugeben. Eine für mich neue wie wertvolle Erfahrung, Drag Queens wie bei einer Castingshow zu beurteilen.

Bei einer Performance messe ich der Idee und Kreativität mehr Gewicht bei als der Ausführung. Ein potentieller Titelträger braucht meiner Meinung nach weder Steppen, noch Singen oder im Takt klatschen können. Wichtiger erscheint mir, wie sich die Kandidaten verhalten, wenn auf der Bühne etwas schiefgeht. Was macht der Lederkerl, wenn seine enge Hose reißt? Wie reagiert die Drag Queen, wenn sie über ihre High Heels stolpert oder ihre Perücke verrutscht. Die Kandi­daten sollten jeder Situation gewachsen sein, außerdem redegewandt, mit ihrem Esprit und ihrem Outfit überzeugen sowie hinter ihrer Mission stehen. Gewiss spielt die Optik eine gewichtige Rolle, man darf sich aber nicht seinen persönlichen Präferenzen ergeben, womit wir wieder beim besagten Bauchgefühl sind, und sich tunlichst davor hüten, die Kandidaten nur nach ihrem äußer­en Erscheinen oder Alter zu beurteilen.

Zweifel tauchen verständlicherweise immer auf, dass begabte Teilnehmer durchfallen könnten. In den meisten Fällen ist es allerdings offensichtlich, welchem Kandidaten es ernst ist und wer für den Titel kämpft. Wer sich nur selbst darstellt und beweisen möchte, dass er der tollste Kerl weit und breit ist, der sollte besser gar nicht antreten. Titel und Schärpe beweisen nur, dass der Gewinner in einer Gruppe von Teilnehmern nach Meinung der Jury und/oder des Publikums die trefflichsten Ergebnisse erzielt hat. Der Tag danach ist der Tag der Wahrheit. Inwiefern die Kandi­da­ten ihre Visionen leben und ihre Missionen erfüllen, kann bei der Wahl niemand voraus­sagen. Die Entscheidungsträger müssen somit doch ihrer Intuition folgen und einen hoch­karä­tigen Sie­ger finden, der seine Gemeinschaft angemessen repräsentiert. Von Verlieren kann keine Rede sein, denn jeder Kandidat, der den Mut aufbringt, auf der Bühne sich selbst und seine Motivation zu präsentieren und die Bereitschaft zeigt, die Community vertreten zu wollen, ist um eine bedeu­ten­de Erfahrung reicher und verdient Respekt.

Über die Jahre hinweg haben nicht nur Länder in Europa und Nordamerika, sondern Bundes­länder und sogar Bars eigene Wettkämpfe entwickelt, um sich durch Titelträger auf regionaler und internationaler Ebene vertreten zu lassen. Dadurch ist seit einigen Jahren ein gewisses Aus­ufern von Mister-Wettbewerbe zu beobachten. Die unterschiedlichsten Titel­ver­gaben sprießen aus dem Boden, worunter im Umkehrschluss die Qualität leidet. Für die Vereine wird es immer schwieriger, geeignete Kandidaten zu finden, die motiviert sind und sich weder vor Arbeit noch vor Öffentlichkeit scheuen. Denn Fotos verbreiten sich dank sozialer Netzwerke in Windeseile. Für viele in unserer Community ist das, neben dem nicht unbedeutenden zeitlichen und finan­ziellen Aufwand, ein Grund, sich keiner Wahl zu stellen. Aus Mangel an Bewerbern kam es in der Vergangenheit schon zu bloßen Bestimmungen von Titelträgern oder sogar zum Aussetzen der Wahlen. Zudem verlieren Außenstehende möglicherweise die Übersicht über die große Anzahl an Titeln und stellen deren Berechtigung in Frage.

Als Juror versuche ich, die Beurteilungskriterien und somit die Messlatte hochzuhalten. Es geht nicht um Bewunderung und das Pflegen von Eitelkeiten. Meine Mitjurorin beim Grazer Drag Race, Ornella de Bakel, hat mit ihrer Aussage bei der Bewertung einer Kandidatin den Nagel auf den Kopf getroffen: „hier geht es um den Ruf des Titels“.