Die „Gedanken in einer ungewöhnlichen Zeit“ zu Corona, die ich im Frühjahr während des ersten Lockdowns verfasst habe, begannen mit den Worten: „Die Corona-Krise hat mich getroffen wie heftige Peitschenhiebe auf den Rücken.“ Vor dem Jahreswechsel 2020/21 treffen mich erneut Peitschenhiebe – noch heftiger, scheinbar unaufhörlich. Denn dieses Virus hält sich an keine der drei goldenen Regeln des BDSM. Es ist weder sicher noch vernünftig und schon gar nicht einvernehmlich.
Wie schwungvoll sind wir in das Jahr 2020 gestartet. Welch verführerische Bilder der Goldenen Zwanziger Jahre liefen vor unserem inneren Auge ab – Federboa-Verruchtheit, dandyhafte Noblesse und schillernde Selbstinszenierung. Natürlich wissen wir, dass so viel Untergang wie in den Goldenen Zwanzigern selten war. Und es gibt neben der Zahlengleichheit durchaus Parallelen zur Gegenwart, sei es die (sexuelle) Freizügigkeit, die Gefahr des Finanzmarkt-Kapitalismus oder den Angriff auf die Demokratie. Was in den 1920ern bis zum Sturz in den Abgrund über Jahre hinweg dauerte, hat 2020 ein Virus in kürzester Zeit beschleunigt. Nach kaum zwei Monaten in den Zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts zwang uns Corona zum Stillstand. Nicht nur bisherige Gewohnheiten mussten über Bord geworfen werden, ganze Existenzen standen auf dem Spiel. Die meisten von uns haben versucht, das Beste daraus zu machen. Klangen meine Zeilen im Frühjahr noch durchwegs zuversichtlich und motiviert, so haften ihnen zwischenzeitlich eine gewisse Lethargie an. Im Frühjahr erhellten die zunehmende Sonne und Wärme, das Sprießen und Erwachen der Natur unser Gemüt und machte den neuen Zustand des Zuhause-Sitzens und Wartens erträglich. Jetzt aber haben uns Kälte, Nebel und Dunkelheit fest im Griff. Inzwischen verliere ich den Überblick: befinden wir uns gerade im Lockdown Light oder in einem kompletten, wenn ja dem wievielten? Wie lange darf ich draußen sein, und wozu? Mit wem darf ich mich treffen?
Sicher scheint mir COVID-19 nur in seiner Kontinuität und Widerstandsfähigkeit. Die neueste Entdeckung seiner Mutation, die noch gefährlicher und erheblich ansteckender sein soll, erinnert mich an einen Science-Fiction Film. Tageszeitungen titeln „Coronavirus mutiert – Menschen fliehen aus London“ und wissen, wie sie das Thema ausschlachten müssen, um mehr Klicks zu erreichen und als Werbeträger attraktiver zu sein. Sie spielen mit unserer Angst, schüchtern uns ein. Die Politik trägt das ihrige dazu bei, die Bevölkerung mit permanenten Androhungen in Schach zu halten. Im Gegensatz dazu stellen sich die Unterstützung und Aufmerksamkeiten von Familie, Freunden und Menschen um uns herum als sicher heraus. Ein aufmunterndes Wort hier, ein gutgemeinter Ratschlag da hilft uns über die außergewöhnliche Zeit hinweg und gibt uns das Gefühl, nicht alleine zu sein. Bitte behaltet diesen positiven Umgang miteinander bei und bleibt Euch trotz der notwendigen Distanz nahe.
Die soziale Distanz setzt vielen zu und es scheint, dass sich bei so manchen mit zunehmendem Abstand die soziale Kompetenz verringert, was mich zur Regel der Vernunft bringt. Laufend sind wir mit Parolen wie „Gemeinsam schaffen wir das“ oder „Schau auf dich, schau auf mich“ konfrontiert. Den Glauben an ein gemeinsames Miteinander habe ich spätestens im Zuge der sogenannten Corona-Massentests im Dezember in Österreich verloren. Nur rund 20 Prozent der Österreicher ließen sich gratis testen, trotz perfekter Organisation, keinerlei Wartezeiten und kostenloser öffentlicher Verkehrsmittel. Die Zeitung „Die Presse“ schrieb hierzu passend: „Viel ist von Eigenverantwortung die Rede. Die setzt aber vor allem Selbstkritik und Selbstreflexion voraus. An der mangelt es leider vielerorts. Die peinlich niedrige Beteiligung bei den COVID-19-Tests sind kein Systemfehler, sondern ein Spiegel der Gesellschaft.“
Neben vielen Nachrichten, die mich erreichen, finden sich leider immer wieder auch abstruse Messages in den sozialen Medien. Kürzlich wurde ich beschuldigt, Rassist und xenophob zu sein, weil ich einem anonymen Fremden, der mich kontaktierte, nicht schreiben wollte, dass ich ihn liebe. Ein anderer, dem ich schrieb, dass ich glücklich vergeben bin, antwortete prompt: „Hasse das glücklich vergeben. Kann man das anders sagen? Das ist nicht sexy mir gegenüber. Finde es strange so was zu hören von einem Mann der fast zwei Mal so alt ist wie ich…“. Ich versuche so gut wie möglich, empathisch zu sein und auf solche Nachrichten zu antworten, statt mein Gegenüber abzuweisen. In diesen beiden Fällen blieb mir jedoch nichts anderes übrig als kopfschüttelnd die Konversation zu beenden. Eine solche Art, die Situation zu bewältigen, ist für einen selbst nicht wirklich zielführend, und war es übrigens auch vor Corona nicht.
Das Angebot an Online-Meetings ist derzeit vielfältig und eine Teilnahme und damit Austausch mit Gleichgesinnten ist sinnvoller, als Andere mit dem eigenen Frust zu attackieren. Viele von uns meistern die Abgeschiedenheit von der Community damit, sich ihre Leder- und Fetisch-Gear anzuziehen, sei es für virtuelle Treffen vor dem PC, für das Arbeiten im Homeoffice oder einfach, um es sich zu Hause bequem zu machen. Fotos davon motivieren andere, ihren Alltag zu durchbrechen, und erfreuen uns. Nicht für alle funktioniert diese virtuelle Welt und ich kann die sogenannte digitale Einsamkeit sogar nachvollziehen. Mir scheint, dass daran allerdings nicht nur COVID-19 schuld ist, aber das Virus füttert ein Monster, das so manchen von uns bereits vor der Pandemie befallen hat. Einsamkeit ist in Wahrheit kein Gefühl, sondern ein Erleben von Bezugslosigkeit. Vielleicht hilft uns die derzeitige Situation dabei, Einsamkeiten zuzulassen und auszuhalten, den Grund für die Bezugslosigkeit aufzuspüren und vernünftige Verhaltensmuster an den Tag zu legen, die uns gestärkt aus der Corona-Zeit führen können.
COVID-19 ist nicht einvernehmlich, das Virus hat sich bei uns vor seiner Ausbreitung kein Einverständnis eingeholt. Was uns allen wohl zu schaffen macht ist, dass die Politik genauso wenig nach unserer Zustimmung fragt, wenn sie neue Maßnahmen beschließt. Ein nie derart bewusst dagewesenes Machtlosigkeitsgefühl macht sich breit. Diskussionen um den Skitourismus erhitzen, während die Schließung von Schulen stillschweigend akzeptiert wird. Der Handel führt den Konsumenten derzeit mit seinen Rabattschlachten vor. Unverblümt wird uns vor Augen geführt, wie hoch die Margen im Handel tatsächlich sind. Dazu lesen wir in den Nachrichten, dass NäherInnen in Entwicklungsländern, die Bekleidung für unseren Handel fertigen, nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Wir befinden uns in einem Hamsterrad, das ins Wanken geraten und zu einer Sackgasse geworden ist.
Viele meinen, dass all das notwendig war, um unser bisheriges Leben zu reflektieren, wieder mehr das Eigentliche schätzen zu lernen und unser Verhalten neu zu definieren. Ist ein starres Festhalten an Formen, die leer sind und an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt, noch sinnvoll? Wer werden wir sein, wenn die Masken fallen? Trotzen wir gerade jetzt zum Jahreswechsel dem Virus und agieren noch sicherer, noch vernünftiger und noch einvernehmlicher! Wir müssen Brücken bauen und keine Mauern errichten, und füreinander Verständnis aufbringen, auch wenn wir derzeit Vieles nicht verstehen. Eine echte Herausforderung, aber wenn wir jetzt unsere Seele weit ausspannen, können wir nach der Pandemie hoffnungsvoll die „neue“ Welt in uns fassen.