Gedanken in einer ungewöhnlichen Zeit – Corona

Die Corona-Krise hat mich getroffen wie heftige Peitschenhiebe auf den Rücken. Allerdings nicht lustauslösend und geil. Der Heilungsprozess ist dennoch vergleichbar: die roten Striemen verfärben sich am nächsten Tag blau und in den darauffolgenden Tagen gelb. In einer etwas anderen Farbgebung präsentiert sich nun nämlich auch meine eigene Gedankenwelt.

Die Vorsorge-Maßnahmen unserer Regierungen zwingen mich, von einem Tag auf den anderen rund um die Uhr zu Hause zu sein, und das seit mittlerweile 40 Tagen. So lange war ich noch nie am Stück in Graz. Eine derart lange Zeitspanne ohne meine Freunde und Familie zu treffen, ohne mit dem Auto zu fahren, und bei mir berufsbedingt vermutlich die letzten 15 Jahre auch ohne in ein Flugzeug zu steigen gab es für mich noch nie. Die Pandemie zwingt mich zum Verzicht. Nicht nur auf Events wie Ostern in Berlin, Pride-Paraden oder zahlreiche Fetisch-Veranstaltungen, die ich in meinen Kalender eingetragen hatte. Sondern auch und noch viel mehr Verzicht auf mein soziales Grundbedürfnis nach Geselligkeit, nach Freundschaft und Zuneigung.

Mit dem Tod von Daniel Dumont, Rob Scheers oder Garry Bowie, um einige Persönlichkeiten aus unserer Leder- und Fetisch-Szene zu nennen, haben die bloßen Infektionszahlen schlagartig Gesichter bekommen, sind Freunde zu Opfern des Virus geworden. Und mit fortgeschrittener Zeit in dieser Krise begegnen sich die Menschen auf der Straße mit Misstrauen bis hin zu ausgeprägter Paranoia. Diskutiert und verurteilt wird derzeit schnell, viel und heftig. Sei es die Nachlässigkeit Einzelner, eine zu Beginn der Krise nicht abgesagte Veranstaltung, Befürworter der Maßnahmen, Gegner der Maßnahmen, die Regierung an sich… Gelegentlich ertappe ich mich selbst dabei, versucht zu sein, meine Mitmenschen im öffentlichen Raum aufgrund ihres Verhaltens zu missbilligen. Dabei ist der einzige vernünftige Mittelweg, sich gegenseitig zu unterstützen. Wir alle sind gleichermaßen mitverantwortlich für den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Besser wir machen alle mit, es funktioniert und wir sagen im Nachhinein, dass die ganze Aufregung womöglich übertrieben war. Überwältigend ist es zu sehen, wie derzeit einzelne Hilferufe aus der Community gehört und beantwortet werden, das gibt Hoffnung. Braucht es dazu allerdings erst eine Pandemie, um uns daran zu erinnern, dass wir uns gegenseitig unterstützen?

Jeder von uns geht anders mit der Bewältigung der aktuellen Situation um. Am deutlichsten wird dies in den sozialen Medien dargestellt. Während die einen Selfies von sich mit ihren Gesichtsmasken posten, verteilt ein polnisches schwules Pärchen auf der Straße regenbogenfarbene Masken. Nicht nur zum Schutz vor dem Coronavirus, sondern zum Kampf gegen die grassierende Homophobie in ihrem Land. Einige Titelträger feiern sich selbst für das mangels neuen Wahlen zusätzliche Titeljahr, andere verkaufen einen Teil ihrer Leder- und Fetisch-Gear, um unter dem Motto #BuyMyGear-FightCOVID-19 Spendengelder für die Leather Heart Foundation zu sammeln, die Mitglieder unserer Community unterstützen, die aufgrund des Virus in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Leider bleiben aufgrund des Überangebots viele Aktionen und Treffen im virtuellen Raum ungehört und ungesehen. Durchwegs freue ich mich über Postings, die viele von Euch in Euren Fetisch-Klamotten zu Hause zeigen, frei nach dem Gedanken #gearstayson. Ich gehöre selbst auch dazu und genieße es, ab und zu in vollem Leder und mit Stiefeln im Home-Office zu arbeiten. Auch die vielen Anfragen von Freunden, Bekannten und Kunden nach meinem Wohlbefinden tun gut.

Viele sprechen von den Chancen der Krise. Auf persönlicher Ebene muss ich gestehen, dass ich bisher weder eine neue Sprache gelernt, noch eine spirituelle Erleuchtung gefunden oder ein nebenberufliches Studium begonnen habe. Es tut mir gut, nicht gnadenlos gegen die Uhr anrennen zu müssen. In dieser Zeit zu Hause muss ich mich jedoch mit mir selbst auseinandersetzen, mit meinen Ängsten, Gefühlen und Erwartungen – ob ich will oder nicht. Ich bekomme bewusst ein Gefühl dafür, wie mein bisher „normales“ Leben verlief: schneller, höher, weiter, mehr… Unweigerlich stellt sich mir die Frage, was ich wirklich brauche und worauf ich verzichten kann. Die derzeit vorherrschende Krise ist in der Tat die ideale Zeit, daran zu denken, was wir eigentlich haben und besitzen und nicht, was uns fehlt. Obwohl bestimmt nicht nur ich derzeit sehr viele Dinge vermisse, schätze ich die Vorteile dieser ungewöhnlichen Zeit.

Ich bin energiegeladen und habe den Frühling 2020 gewiss mit allen Sinnen so intensiv erlebt wie noch kein anderer zuvor. “Wenn sie die Notwendigkeit verspüren, an die frische Luft zu gehen, dann tun sie das“, so unser Bundeskanzler in einer Pressekonferenz. Davon mache ich in Form von Jogging und Spazierengehen täglich gebrauch. Anfangs bin ich gelaufen, um vor der Frage der Situationsbewältigung davonzulaufen. Mittlerweile genieße ich beim Joggen das Wohlempfinden und das Endorphin-High, das dem einer BDSM-Session sehr ähnlich ist. Beim Spazieren nehme ich das Austreiben der Blüten und Blätter wahr, die Gerüche, die zunehmende Wärme der Sonne. Manchmal braucht es gar nicht viel, um glücklich zu sein. Zudem probiere ich viele neue Koch- und Backrezepte aus, habe mehr Töpfe mit frischen Kräutern denn je in der Küche stehen und erkenne, dass ich derlei Dinge nicht Zeitvertreib nennen soll, sondern Zeitgenuss.

In unserer Eile, wieder zur Normalität zurückzukehren, sollten wir die jetzige Zeit nutzen, um zu überlegen, zu welchen Teilen der Normalität es sich lohnt, zurückzukehren. Soll es wieder normal werden? Diese Frage möge jeder für sich selbst beantworten. Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen – das wird es diesmal nicht spielen. Wir werden nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Wir werden aber bestimmt das Miteinander, die Umarmung, den Handschlag wieder vermehrt zu schätzen wissen. Wir werden vieles, was uns vorher selbstverständlich war, bewusster wahrnehmen. Vielleicht mal das eine oder andere kommerzielle Geschäftsmodell und Vermarktungslogik unserer Fetisch-Community kritisch hinterfragen und sich damit auseinandersetzen, wo man eigentlich dabei sein möchte und was man sich von Veranstaltungen tatsächlich erwartet. Wir haben nun gelernt, mit Distanz umzugehen. Ist es sinnvoll, in gewisser Hinsicht weiterhin Abstand zu wahren? Ist man für gewisse Mitmenschen nur Spielplatz und ist die eigene Realität nicht zu wertvoll dafür? Kann es nicht auch spannend sein, sich für das Leben außerhalb unserer eigenen Blase zu interessieren? Wünschenswert ist, dass sich derlei Gedanken und Vorhaben nicht allzu schnell verflüchtigen, sondern die Rückkehr in die „neue Normalität“ überdauern. Ich schließe meinen Ideenanreiz mit den Worten des dänischen Atomphysikers Niels Bohr: „Wir sind gleichzeitig Zuschauer und Schauspieler im großen Drama des Seins.“