Nutzten die Schwulen früher Hanky-Codes zur gegenseitigen Erkennung, gibt es heute zahlreiche Dating-Apps, um einen Partner für diverse Bedürfnisse zu finden. Zwar lernt man sich nirgendwo besser kennen als im realen Leben, aber die vorherrschende Pandemie zwingt uns dazu, uns noch mehr digital zu begegnen.
In Gesprächen fällt mir immer wieder auf, dass sich viele bei Hanky-Codes nicht auskennen. Einige begründen ihr Nichtwissen damit, dass Online Dating-Apps ohnehin darüber Auskunft geben, auf was das Gegenüber stehe. In den 1970ern, also noch lange vor Gayromeo, Recon, Grindr und Co., war der Hanky (kurz für Handkerchief/deutsch: Taschentuch) Code eine beliebte Art für schwule Männer, um anderen zu zeigen, welche Fetische und welche Position sie sexuell bevorzugen. Die farbigen Tücher in der Gesäßtasche verbreiteten sich in Europa und den USA vor allem in der Schwulen- und BDSM-Szene rasend schnell. Auch Tom of Finland zeichnete seine Figuren mit Hankys und dieser Sex-Indikator wurde immer beliebter. Seither hat sich unsere Community jedoch verändert, Homosexuelle sind weitaus selbstbewusster geworden und brauchen sich nicht mehr zu verstecken. Zudem sind die Möglichkeiten der Partnersuche bedeutend gestiegen.
Ich selbst habe den Hanky-Code bei meinen Besuchen in den USA wiederentdeckt, denn dort werden die signalisierenden Tücher noch deutlich häufiger getragen als bei uns in Europa. Vielleicht mag heute den Hanky-Codes ein Hauch Vintage anhaften, ich trage sie trotzdem gerne als starkes Symbol jener Zeit, in der für unsere Lederszene die Weichen gestellt wurden. Weiß mit bunten Punkten, oder lila-weiß kariert, aus Satin oder Moskitonetz, Magenta oder doch Fuchsia? Die Vielfalt der Codierungen wurden im Laufe der Zeit immer mehr und die Verwechslungsgefahr der Farben häufiger, was diese Art des einander Erkennens fast ad absurdum getrieben hat. Damit sei entschuldigt, dass sich der eine oder andere mit Hankys nicht mehr auskennt. Wahrscheinlicher ist in der Tat, dass das Aufkommen der einschlägigen Online-Kontaktportale die Hanky-Codes überflüssig und vielfach verdrängt hat.
In unserer heutigen digitalen Welt nutzt man Apps, klickt seine sexuellen Vorlieben an und schreibt detailliert auf, was gesucht wird. In Windeseile können die passend scheinenden Partner online gefiltert werden, je nach App sogar angezeigt nach Entfernung. Das Aussehen wird auf völlig überzogene Weise ebenfalls als Filter genutzt. Gar mancher von uns hat nicht nur eine dieser Apps, sondern mehrere auf dem Smartphone installiert und wischt sich je nach Bedarf durch die schwellenlose, digitale Männerwelt, filtert nach schnellem Abenteuer, speziellen Vorlieben oder die Liebe fürs Leben und klickt sich durch die Fülle von Angeboten, die der Algorithmus der Liebe bereitstellt. Ist ja auch viel einfacher als jedem interessanten Mann erstmal auf die Gesäßtasche zu starren und versuchen sich daran zu erinnern, was die Farbe auf genau der Seite getragen bedeutet. Der Reiz des Entdeckens geht allerdings schnell verloren, wenn online schon alle sexuellen Vorlieben öffentlich zur Schau gestellt werden.
Zu meinen „Fetish in the City“ Partys, habe ich über Recon immer viele der Grazer und Wiener App-User eingeladen habe. Die Rückmeldungen waren recht unterschiedlich. Der eine scheute sich, weil er niemanden kannte. Der andere wollte nicht, weil er skeptisch war und dachte „das ist in Wien besser“. Und viele haben gar nicht geantwortet, geschweige denn den Schritt aus ihrer Wisch-Komfortzone in die reale Welt gewagt. Die regionale Fetisch-Community, die bei uns offensichtlich doch existiert und die man beispielsweise sehr wohl bei Folsom in Berlin antrifft, versteckt sich zu einem Großteil hinter digitalen Endgeräten und datet lieber online, statt den persönlichen Kontakt zu suchen und sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten. Ich will die Online-Kontaktportale hier auf keinen Fall schlechtmachen, im Gegenteil. Obwohl ich statistisch gesehen kein Digital Native bin, habe ich meine ersten Fetischdates damals über worldleathermen.com (heute Recon) vereinbart und den Mann fürs Leben habe ich ebenfalls online gefunden.
Das World Wide Web ist keine Modeerscheinung, sondern zu einem Teil unseres Lebens geworden. Wir müssen mit dem Netz umgehen und jeder von uns hat in Dating-Apps und/oder sozialen Netzwerken sein Personal Brand, eine Art persönliches Markenzeichen, geschaffen. Diese Identität ist nicht nur das Bild, welches wir vor uns selbst haben, sondern, wie wir von anderen wahrgenommen werden. Sehr vieles, was wir derzeit in sozialen Medien geboten bekommen, gilt es kritisch zu hinterfragen und zu lernen, auch Ungewissheiten und Widersprüche auszuhalten. Manch einer hat es perfektioniert, mit einem Personal Brand fernab von Authentizität, online seine komplexbeladenen Giftpfeile abzuschießen. Oft nur, um Postings kurze Zeit später schon wieder zu entschärfen oder gar zu löschen. Viel besser ist es doch, Ungereimtheiten unter vier Augen zu besprechen, statt die breite Öffentlichkeit am Kampf ums Ego teilhaben zu lassen.
Wenn es das breite Interesse denn überhaupt gibt, denn Facebook, Insta und Co. erinnern häufig an ein Selbstgespräch in einem mit Menschen überfüllten Raum. Man verspürt vermehrt, wie sich eine digitale Einsamkeit breitmacht. Ob und wie die digitalen Begegnungen in der neuen Normalität nach Corona weiter bestehen, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass uns allen derzeit persönliche Interaktion, menschliches Miteinander, Begegnungen und Berührungen fehlen. Wer weiß, vielleicht kommen unsere Hankys aus den Schubladen wieder zum Vorschein, wenn wir uns ausloggen und wieder mehr in der realen Welt unterwegs sein werden…