Überrascht fand ich kürzlich in meinem Briefkasten die Einladung zum CSD in Graz am 5. September vor. Ich ging davon aus, dass die Pride Parade, üblicherweise im Juni abgehalten, in meinem Wohnort dieses Jahr, wie alle anderen Veranstaltungen auch, coronabedingt nicht stattfinden wird. In der Ankündigung steht: „Zwar ein bisschen später als sonst, aber deshalb nicht weniger bunt.“ Natürlich mit Maskenpflicht bei der Parade sowie COVID-19 Sicherheitsregeln beim anschließenden Picknick im Grazer Volksgarten.
Skeptisch habe ich die Einladung zur Seite gelegt und trotzdem kurze Zeit später wieder hergeholt und mir darüber Gedanken gemacht. Die jährliche Teilnahme an der Pride bedeutet für mich nämlich nicht nur Regenbogen, Glitzer, Alkohol und Partystimmung, sondern nach wie vor, den Grundgedanken des Stonewall-Aufstandes aufrechtzuerhalten: Auflehnung gegen Diskriminierung und Gleichstellung aller sexuellen Orientierungen. Das hat 2020 keinesfalls an Notwendigkeit verloren. Mitte August wurden bei uns in Graz drei Scheiben des neu gestalteten Schaufensters des Vereinslokals der RosaLila PantherInnen (LGBTQ+ Interessensvertretung in der Steiermark) eingeschlagen. Nur eine Woche nach Aufstellten einer Regenbogenbank als Zeichen für Toleranz in Salzburg wurde diese mit Sprühfarbe verunstaltet. Und genau am Tag der Pride kam es in Wien während einer Demonstration gegen die Coronavirus-Maßnahmen zu einem homophoben Aufruf. Homosexuelle Personen wurden als „Kinderschänder“ diffamiert und eine Regenbogenfahne zerrissen. Das sind jüngste Beispiele von Hassattacken und Homophobie in unserem Land. Umso wichtiger, dass die Community auch in Zeiten wie diesen sichtbar bleibt und der Feindseligkeit entgegenwirken muss. Die Wichtigkeit von CSDs wird durch derlei Aktionen bestätigt.
Trotzdem der Gedanke an die Pandemie. Ist es klug, derzeit bei einer Kundgebung dabei zu sein? Der diesjährige Pride-Sommer war wegen COVID-19 anders: die meisten Paraden wurden abgesagt und durch online-Veranstaltungen ersetzt, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Selbst wenn dies ein großer Verlust für unsere Community darstellt, ist die Entscheidung nicht sinnvoll? Maske hin, Mindestabstand her. „Aber deshalb nicht weniger bunt“ – so die Ansage der Veranstalter. Da fallen mir spontan die alljährlich wiederkehrenden Diskussionen in den sozialen Medien zum Thema Fetisch und Kink bei Pride-Paraden ein. Die einen vertreten den Standpunkt, dass das Tragen von Fetisch-Kleidung und das zum Ausdruck bringen der eigenen Sexualität nicht in die Öffentlichkeit gehöre und sich anwesende Mitmenschen und Kinder dadurch unwohl fühlen oder ihnen gar Schaden zustößt. Dies mag an der leider noch verbreiteten Meinung der Gesellschaft liegen, dass Sex im öffentlichen Kontext von Natur aus schädlich und deshalb tabu sei.
Die anderen vertreten die Ansicht, dass die Leder- und SM-Szene in der LGBTQ+-Bewegung eine lange Geschichte hat, Ausdruck der queeren Kultur und Sexualität darstellt und dadurch ihren Platz in jeder Pride-Parade verdient. Lange genug wurden unsere Vorlieben seitens der Psychiatrie als eine krankhafte Triebstörung eingeschätzt. Gerade deshalb brauchen wir uns auch in der Öffentlichkeit nicht der CIS-Heteronormativität zu unterwerfen und nicht zu verstecken, sondern können stolz darauf sein, wer wir sind und für was wir stehen – in unserer gesamten Vielfalt.
Eine CSD Parade ist für queere Menschen jeden Alters, jeder sexuellen Zugehörigkeit und aller Vorleiben und Neigungen da. Wir marschieren und protestieren miteinander, ungeachtet der Unterschiede, wie uns prägen. Dafür braucht es wahrlich keine sexuellen Handlungen in der Öffentlichkeit. Ich zwinge niemanden dazu, an meinem Fetisch teilzunehmen. Genauso wenig werde ich von anderen gezwungen, ihre Vorlieben zu teilen. Wir dürfen so sein, wie wir sind, und vor allem auch, wie es uns glücklich macht.
Die derzeit herrschende virtuelle Blase mag zwar überbrücken, nicht aber ersetzen. Auch wenn die Corona-Ampel für Graz zwischenzeitlich auf gelb gestellt ist, und damit in der versprochenen Buntheit der Tupfen schwarz und grau nicht fehlt, habe ich das erste Mal seit vielen Wochen wieder mein Leder in der Öffentlichkeit getragen, meine Leather-Pride Fahne gehisst und stolz marschiert und demonstriert. Für unsere Community, für das Bewusstsein von Fetisch und Kink, für die Andersartigkeit, gegen Hass und Diskriminierung und ohne jemanden damit zu schädigen oder Unwohlsein zu verursachen. Mit meinem Mund-Nasenschutz aus Leder, mit Mindestabstand. Denn jede Gelegenheit, Gesicht zu zeigen und für das Einzustehen, was uns und unser Leben prägt, ist trotz Pandemie wertvoll und sollte genutzt werden. Als Kompromiss für mich selbst gab es das anschließende Gläschen Glitzer-Prosecco dann eben zu Hause statt beim Pride-Picknick.