Wie berührt man die Seele? Durch Liebe oder durch Lust? Kann man die Seele wie einen Körper berühren und umgekehrt? Ein provozierendes modernes Märchen über die Alchemie der Liebe. Maria, eine junge Frau aus dem brasilianischen Hinterland, findet aus Abenteuerlust und der Suche nach der großen Liebe ihren Weg nach Europa. Sie wird Sexarbeiterin und Coelho schildert ihre Reflexionen rund um das Thema Sexualität, Lust und Liebe.
Gedanken wie „In der Liebe kann keiner dem anderen weh tun; für seine Gefühle ist jeder selbst verantwortlich, und wir können nicht die anderen dafür verantwortlich machen“ oder „Was ist weniger zerstörerisch: sich von der Leidenschaft fernzuhalten oder sich ihr blind hinzugeben?“ regen in diesem Buch zur Selbstreflexion an. Der Autor gibt dem Leser das ganze Buch hindurch spannende Impulse mit auf den Weg. „Sex ist wie eine Droge, das merke ich immer deutlicher, und hat für die meisten Leute eine ähnliche Funktion: Der Sex soll ihnen helfen, der Realität zu entfliehen, ihre Probleme zu vergessen, sich zu entspannen. Er ist auch genauso schädlich wie eine Droge… Ein Mensch, der sein Leben intensiv lebt, genießt die Zeit, auch ohne Sex. Und wenn er Sex hat, dann geschieht das aus dem Überfluss heraus. Wie bei einem Glas Wein, das so lange gefüllt wird, bis es irgendwann zwangsläufig überläuft. Genauso unausweichlich ist die körperliche Vereinigung, weil der Mensch in diesem Augenblick den Ruf des Lebens annimmt, weil er dann – und nur dann – fähig ist, loszulassen, die Kontrolle aufzugeben.“
Mit einem Kunden lernt Maria die Welt des SM kennen und genießen: „Als ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich alles. Als ich aufhörte, die zu sein, die ich war, habe ich mich selbst gefunden. Als ich die Demütigung und die totale Unterwerfung erfahren habe, war ich frei.“ Coelho schildert auch in diesem Bereich interessante Gedankengänge und mit den Einblicken eines japanischen Holzfällers und den Prinzipien von Shugendō wird Marias Weltbild wieder „zurechtgerückt“ (ob notwendig oder nicht bleibt fraglich).
Eine wunderschöne Metapher aus dem Buch „Elf Minuten“ sei hier zitiert: „Es war einmal ein Vogel. Er besaß ein Paar vollkommener Flügel und glänzende, bunte, wunderbare Federn und war dazu geschaffen, frei am Himmel zu fliegen, denen zur Freude, die ihn sahen. Eines Tages sah eine Frau diesen Vogel und verliebte sich in ihn. Sie schaute mit vor Staunen offenem Mund seinem Flug zu, ihr Herz schlug schneller, ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Er bat sie, ihn zu begleiten, und beide schwebten in vollkommener Harmonie am Himmel. Und sie bewunderte, verehrte, feierte den Vogel. Aber dann dachte sie: Vielleicht möchte er ferne Gebirge kennenlernen! Und die Frau bekam Angst. Fürchtete, dass sie so etwas mit einem anderen Vogel nie wieder erleben könnte. Und sie wurde neidisch auf den Vogel, der aus eigener Kraft fliegen konnte. Und sie fühlte sich allein. Und dachte: Ich werde dem Vogel eine Falle stellen. Wenn er zurückkommt, wird er nie wieder wegfliegen können. Der Vogel, der auch verliebt war, kam am nächsten Tag zurück, ging in die Falle und wurde in einen Käfig gesteckt. Die Frau schaute täglich nach dem Vogel. Er war ihre ganze Leidenschaft, und sie zeigte ihn ihren Freundinnen, die meinten: „Hast du ein Glück.“ Dennoch vollzog sich eine merkwürdige Veränderung: Seit sie den Vogel besaß und ihn nicht mehr zu erobern brauchte, begann sie das Interesse an ihm zu verlieren. Der Vogel, der nicht mehr fliegen konnte, was den Sinn seines Lebens ausmachte, wurde schwach, glanzlos, hässlich. Die Frau beachtete ihn nicht mehr, fütterte ihn nur noch und reinigte seinen Käfig. Eines Tages starb der Vogel. Die Frau war tieftraurig und konnte ihn nicht vergessen. Aber sie erinnerte sich dabei nicht an den Käfig, nur an den Tag, an dem sie den Vogel zum ersten Mal gesehen hatte, wie er fröhlich zwischen den Wolken dahinflog.“
Alle von uns werden schon einmal auf diese Art und Weise gehandelt haben. Unbewusst, getrieben von vermeintlicher Liebe, Leidenschaft oder hinter dem Vorwand des Fetischismus, tatsächlich aber aus Schwäche oder Angst uns oder anderen Leid zugefügt, ohne unser Handeln hinterfragt zu haben. Geschichten und Anregungen wie diese machen dieses Buch absolut lesenswert.
Elf Minuten | Paulo Coelho | ISBN 978 3 257 23444 2 | Diogenes Verlag